Kybernetische Kreisläufe – Denkanstöße von Frederic Vester für das Management

Kybernetische-Vernetzung-Rezension-Marc-Opitz

von Marc Opitz

Was erwartet den Leser?

Das Büchlein „Wasser = Leben“ vom Molekularbiologen und Umweltfachmann Frederic Vester macht mit seinen zahlreichen Illustrationen, der Thematik und dem Erscheinungsjahr 1987 wenig Anschein, als könne es die moderne Managementpraxis berühren. Dennoch denke ich, dass es sich lohnt, einmal genauer hinzuschauen. Denn Vester hat als Systemdenker herausragende Impulse gegeben, um ein ganzheitliches und kybernetisches Denken zu schulen und in Unternehmen zu verankern. Mit diesem Beitrag möchte ich zum 100. Jahrestag von Frederic Vester seine Arbeit in Erinnerung rufen und würdigen.

Was hat mein Interesse geweckt?

Unsere Lebensbereiche und Aufgaben in Unternehmen sind zunehmend durch Spezialisierung gekennzeichnet. Dies ist verständlich, da umfassendes Wissen auf diesen Gebieten erforderlich ist, z.B. technologisch, methodisch oder regulatorisch. Wenn jedoch jeder nur seinen Teil der Wirklichkeit sieht, fehlt ein Bewusstsein für die Beziehungen und Abhängigkeiten im größeren Gefüge. Vester hat dies sehr plakativ anhand der Volkswirtschaft als „zerrissenes Netz“ visualisiert.

 

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Abbildung 1: Zerrissenes Netz, Vester (1999) Seite 41

 

Wenn man Ökosysteme wie die Wasserkreisläufe betrachtet, wird man feststellen, dass sich alles ständig selbst reguliert. Die einzelnen Teile spielen wunderbar zusammen. Wenn wir das Gefüge der Wirkungszusammenhänge jedoch nicht kennen oder nicht sehen wollen, besteht die Gefahr, das System ins Ungleichgewicht zu bringen oder sogar zu zerstören. Um so bedeutender ist es, sich mit der Regulation bzw. Selbstregulation von Systemen zu beschäftigen. Diese Sichtweise wird als Kybernetik bezeichnet.

Vester beschreibt in seinem kleinen, kybernetischen Umweltbuch fünf Wasserkreisläufe:

  • Regen, Meer und Wolken
  • Der Baum und das Wasser
  • Grundwasser als Lebensbasis
  • Das Wasser und die Stadt
  • Was Flüsse tragen müssen

Durch die bildliche und spielerische Auseinandersetzung mit diesen uns alltäglich begegnenden Kreisläufen entwickeln wir mehr Gefühl und Verständnis für das vielfältige Geschehen in der Natur. Beispielsweise erkennen wir, dass ein gesunder Baum in einer intakten Umwelt den Wasserkreislauf in Gang hält, die Luft reinigt, für genügend Bodenfeuchte sorgt, die Humusbildung fördert und das Erdreich festigt. Treten Umweltbelastungen auf, so kann der Baum ein Stück weit zur Entgiftung beitragen. Bei größeren Umweltschädigungen oder gar der Zerstörung leiden jedoch die nützlichen Funktionen des Baums bzw. fallen weg.

 

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Abbildung 2: Jeder Baum ist eng verzahnt mit seiner Umwelt, Vester (1987)

 

Die Kreisläufe werden nicht nur qualitativ beschrieben. In seinen Beispielen verwendet Vester häufig Kennzahlen, um ein Gespür für die Größenordnungen zu entwickeln. So hebt er z.B. die Pumpleistung eines Baums von 30.000 Liter pro Jahr bzw. die Verhinderung von 70.000 Liter Abfluss pro Jahr hervor. Ein einzelner Baum filtert 7.000 kg Staub und Gifte, produziert pro Stunde 370 Liter Sauerstoff und verdunstet pro Stunde 5,7 Liter Wasser. Vester rechnet aus, dass es zur Zeit der Publikation 5.000 DM kosten würde, wenn also der Baum fehle und die gleiche Leistung durch technische Systeme erbracht werden müssten.

Was bedeutet das für Unternehmen?

Vernetztes Denken

Schon die Vielfalt der oben aufgeführten Buchthemen zeigt, dass ein Power-BI-Projekt viele Gesichtspunkte aufweist. An dieser Stelle möchte ich exemplarisch organisatorische Überlegungen darstellen.

Wir sind geneigt, in einfachen linearen Mustern zu denken. Kaum ist ein Problem als solches abgestempelt, so wird daraus wie bei einem automatischen Reiz-Reaktionsmechanismus die naheliegendste Lösung abgeleitet. Das Firmenklima ist angespannt, lasst einen Betriebsausflug machen! Die Kosten für das neue Produkt sind zu hoch, wir streichen Features! Das Image ist nicht das Beste, wir schalten eine Kampagne! Gegen derartige Lösungsvorschläge ist im Grunde nichts einzuwenden. Allerdings darauf zu beharren, als wäre die Lösung so einfach, kann den Blick auf tiefgründigere Optionen verwehren.
Mit einem linearen Denken geht häufig ein kurzfristiges Denken einher. Schnelle Lösungen können jedoch dazu führen, dass Nebenwirkungen und Risiken zu wenig beachtet werden. Aus diesem Grund kann es sinnvoll sein, noch einmal andere Blickwinkel einzunehmen und andere Beteiligte einzubeziehen.
Das lineare Denken beschränkt sich auf einen sehr eng begrenzten Ausschnitt der Realität. In komplexen Situationen empfiehlt sich, die Grenzen der Betrachtung zu erweitern. Dann werden bspw. bei einem Produkt-Launch nicht nur die reinen Features und Kosten betrachtet, sondern auch Aspekte wie Qualität, Kundenloyalität, Mitarbeiterqualifikation, Sicherheit, Image und Wettbewerbsvorteil.

Messgrößen und Eingriffsmöglichkeiten

Gerade bei komplexen Entscheidungen bietet sich an, die aktuelle Regulation im System transparent zu machen. Dazu können metrische Größen wie Bestandsmengen (im Beispiel von Vester das Wasser in den Ozeanen oder in der Atmosphäre) oder Veränderungsgrößen (z.B. die Verdunstungsmenge oder der Niederschlag pro Tag) herangezogen werden. Aus derart quantifizierbaren Kenngrößen lassen sich dann Simulationsmodelle ableiten.
Sind die Beziehungen zwischen den systembeschreibenden Teilen nicht derart physikalisch exakt nachzubilden, dann lassen sich mindestens Beziehungen in der Form ableiten wie „Mehr von Einem führt zu mehr vom Anderen“ (positive, selbstverstärkende Beziehung) oder „Mehr von Einem führt zu weniger vom Anderen“ (negative, selbstregulierende Beziehung). Wirkungsketten, die wieder auf ein Systemelement zurückwirken, werden als Rückkopplung bezeichnet. Auch diese können in der Summe positiv oder negativ sein. „Negativ“ meint hier aber nicht „schlecht“, denn alle lebensfähigen Systeme brauchen diese stabilisierenden Rückkopplungen. Mit diesem erweiterten Verständnis der Funktionsweise eines Systems lassen sich dann Stellschrauben identifizieren und bewerten.

Umweltbewusstsein fördern

Ein wesentliches Anliegen in Vester´s Arbeit ist es, ein tiefergehendes Verständnis für die Natur und die Abhängigkeit unseres Wirtschaftens zu entwickeln. Dass in einer Industriegesellschaft mit der Produktion von Gütern gleichzeitig umweltschädigende Auswirkungen entstehen wie Abbau von Ressourcen, giftige Emissionen oder Berge von Müll, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Dabei zeigt uns die Natur, wie es besser gehen kann. Die Ökosysteme kennen weder Rohstoffsorgen noch Abfallprobleme. Jeder Abfall ist wieder Rohstoff für etwas Neues. In der Natur gibt es immerwährende Recycling-Prozesse. Je näher wir unsere Produktionsweise am Ideal der Natur ausrichten, desto nachhaltiger ist unsere Lebensweise und desto geringer unser Fußabdruck auf Mutter Erde.

 

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Abbildung 3: Superfabrik Biosphäre, Vester (1987)

 

Fazit

Dieses Buch „Wasser = Leben“ vom Pionier für vernetztes Denken mag an ein Kinderbuch erinnern. Aber warum lassen wir Erwachsenen uns nicht einmal durch die fünf illustrierten Kreisläufe rund ums Wasser für ein Denken in Zusammenhängen inspirieren. Es ist eine spielerische Übung anhand bekannter Beispiele. Durch Übertragung auf die Wirtschaft und das Management lassen sich analoge Wirkungsketten und Rückkopplungen erkennen. Einmal Interesse und Faszination am vernetzten Denken gewonnen, finden sich weiterführende Literatur, Methodenbeschreibungen und Tools im Portfolio des ökologischen Denkers Vester. Und vielleicht sind seine Impulse diejenigen, die uns entscheidend auf dem Weg in eine nachhaltige Zukunft unterstützen.

Weiterführende Quelle

Vester, Frederic: Wasser = Leben – Ein kybernetisches Umweltbuch mit Kreisläufen des Wassers, Ravensburger Buchverlag Otto Maier, 1987.
Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999.

Vester, Frederic: Wasser = Leben – Ein kybernetisches Umweltbuch mit Kreisläufen des Wassers, Ravensburger Buchverlag Otto Maier, 1987.
Vester, Frederic: Die Kunst vernetzt zu denken – Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999.

Anhang des Autors

Wiki
Frederic Vester, 1925-2003, Biochemiker, Systemforscher, Umweltexperte, Universitätsprofessor
Als Autor und über seine Präsenz in den Medien hat Vester das Systemverständnis und das „Vernetzte Denken“ im deutschen Sprachraum populär gemacht.
Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des BUND und war im deutschsprachigen Raum einer der Pioniere der Umweltbewegung.
Unter Berufung auf die Kybernetik (bzw. Biokybernetik) hat Vester systemisches („vernetztes“) Denken propagiert, ein Ansatz, in dem die Eigenschaften eines Systems als ein vernetztes Wirkungsgefüge gesehen werden. Die einzelnen Eigenschaften, die zunächst als Variablen im Papiercomputer bzw. der Einflussmatrix in ihrer Wirkung bewertet werden, verstärken oder schwächen andere Größen des Systems (Rückkopplung). Diese den ungeübten („linear denkenden“) Betrachter verwirrende Vernetzung kann mit Hilfe der Methodik von Vester in mehreren Arbeitsschritten analysiert, grafisch dargestellt und nachvollziehbar gemacht werden. Auf diese Weise können z. B. positive, d. h. selbstverstärkende, und negative, d. h. selbstregulierende, Rückkopplungskreisläufe sicher erkannt werden. Einflussgrößen werden in ihrer Systemqualität sichtbar und bewertet (z. B. als stabilisierend, kritisch, puffernd oder empfindlich für äußere Einflüsse usw.) und können durch Simulationen in Bezug auf ihre langfristigen oder speziellen Wirkungen betrachtet werden. Auf der Grundlage eines so erarbeiteten Modells können Fragen nach sinnvollen Eingriffsmöglichkeiten und Steuerhebeln, zukünftiger Entwicklung oder möglichen Systemverbesserungen beantwortet werden. Die von Vester entwickelten Methoden fasste er in seinem Sensitivitätsmodell Prof. Vester zusammen, für das er eine aufwändige Software erstellte und das über Seminare und seit ca. 1980 in zum Teil umfangreichen Studien und Projekten Verbreitung fand. Seit dem Tod Vesters und der Übernahme der Rechte an allen Werken Vesters durch Fredmund Malik wird es als Malik Sensitivitätsmodell nach Prof. Vester vermarktet. Die Methoden des Vester’schen Sensitivitätsmodells fanden weltweit in Management- und Planungsprojekten Anwendung.

Auszüge

„In diesem Buch soll am Beispiel der großen und kleinen Wasserkreisläufe gezeigt werden, wie die Natur sicher selber hilft und reguliert. Das nennt man Kybernetik. Auch wir können an den Drehscheiben Kreisläufe steuern und so ein wenig „kybernetisch“ experimentieren. Das mag dem Leser auf spielerische Weise helfen, mehr Gefühl und Verständnis für das vielfältige Geschehen in der Natur zu entwickeln – aber auch die Folgen unserer unüberlegten Eingriffe in dieses bewundernswerte Zusammenspiel zu verstehen.“
Regulierende Naturkreisläufe versus Müllhalden als Ergebnis der Industriegesellschaft
„Jeder Abfall ist wieder Rohstoff für etwas Neues.“
„Doch kaum jemand macht sich klar, was intakte, funktionierende Wasserkreisläufe für das Fortbestehen des Lebens auf der Erde haben.“
Sauerstoffkreislauf, Kohlenstoffkreislauf, Stickstoffkreislauf
Immerwährendes „Recycling“ in der Natur
„Ein intakter Kreislauf braucht keine Kontrolle von oben. Neben Rohstoffersparnis und Abfallvermeidung ist daher die Selbstregulation das dritte große Plus von Kreisläufen.“

Chat GPT

Was bedeutet „Vernetztes Denken“ für das Management?
“Vernetztes Denken” im Management bedeutet, komplexe Zusammenhänge systematisch zu erfassen, anstatt isoliert oder eindimensional zu denken. Es geht darum, Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Rückkopplungseffekte innerhalb eines Systems zu erkennen und zu berücksichtigen. Besonders in einer zunehmend dynamischen, globalisierten und digitalisierten Welt ist dieses Denken essenziell für fundierte Entscheidungen.
Im Detail bedeutet das:

  1. Ganzheitliches Verständnis: Managemententscheidungen wirken sich selten nur auf einen Bereich aus. Vernetztes Denken fordert, alle relevanten Perspektiven (z. B. ökonomisch, ökologisch, sozial) in Entscheidungen einzubeziehen.
  2. Berücksichtigung von Wechselwirkungen: Beispiel: Eine Entscheidung zur Kostensenkung durch Personalabbau könnte kurzfristig Gewinn bringen, langfristig aber Know-how und Motivation im Unternehmen schwächen. Vernetztes Denken analysiert solche Effekte systematisch.
  3. Langfristige Perspektive: Anstatt kurzfristiger Lösungen fokussiert vernetztes Denken auf nachhaltige Strategien. Es hilft, Folgewirkungen und mögliche zukünftige Entwicklungen zu antizipieren.
  4. Systemdenken: Organisationen werden als Systeme verstanden, in denen alles mit allem verbunden ist. Vernetztes Denken nutzt oft Modelle wie das System Dynamics-Modell (z. B. mit Kausaldiagrammen oder Wirkungsnetzen), um diese Zusammenhänge zu visualisieren und zu analysieren.
  5. Interdisziplinäre Zusammenarbeit: Vernetztes Denken im Management fördert den Austausch zwischen Abteilungen und Fachbereichen. Silodenken wird überwunden zugunsten integrierter Lösungen.
  6. Komplexitätsbewältigung: Manager lernen, mit Unsicherheiten und Komplexität umzugehen, ohne in Vereinfachungen zu verfallen. Statt einfacher Ursache-Wirkung-Erklärungen wird die Realität als mehrdimensional betrachtet.

Beispiele für Anwendung im Management:

  • Strategieentwicklung: Berücksichtigung von Marktveränderungen, Ressourcen, Stakeholder-Interessen.
  • Risikomanagement: Einschätzung systemischer Risiken (z. B. in Lieferketten).
  • Change Management: Verstehen, wie Veränderungen in einem Bereich andere beeinflussen.
  • Nachhaltigkeitsmanagement: Abwägung ökologischer, sozialer und ökonomischer Ziele.

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